Hansel Time
Die Susi Bar versteckt sich gerne. Wer sie nicht zielgerichtet sucht, läuft leicht an ihr vorbei. Besonders zu dieser Tageszeit ist sie nur ein dunkles, nichtssagendes Loch. Da helfen nur Koordinaten. Die Seitenstrasse, die fast genau gegenüber in die Pampas führt, ist eine recht verlässliche Peilung. Dort auf der anderen Seite beginnt oder endet ein grösseres Bier Bar Areal, welches nicht zu übersehen ist.
Fast wäre Hans wieder wie üblich vorbeigepattert, aber Motivation hilft kolossal. Er will noch mal einer alternden Dame in die Augen schauen, will noch einmal seinen eigenen Schatten der Vergangenheit in ihren ehemals verführerischen Blicken erhaschen. Er ist auf alles gefasst. Selbst ein mittlerweile zahnlos grinsender Mund wird ihn nicht davon abhalten, für zwei Nächte den Hansel zu machen und das auszuleben, was besonders die Unbedarften und Unwissenden in ihrer moralisierenden Hilflosigkeit als Sex-Tourismus bezeichnen.
Ein Blick in das dunkle Loch lässt Schlimmes erahnen. Die Dame ist wirklich in die Jahre gekommen und döst vor sich hin. Einige wenige Mädels liegen verschlafen auf den Bänken, oder lutschen entrückt an ihren Nudeln in der Suppe. Das Alter der Service Damen ist zu dieser Tageszeit völlig uneinschätzbar, da sie sich noch im schlampigen Naturzustand des Morgenstresses befinden. Ein Gast Anfang 40 mit einem Zwergel an seiner Seite starrt verkatert über seine Sodaflasche hinweg vor sich hin. Tote Hose.
Genau das, was Hans sucht und braucht. Hier haben sich Schicksale versammelt. Nicht die der Königshäuser, der Mächtigen oder der Berühmten und Schönen. Nein, hier versammelt sich gerade reiches Potential für seine wissenschaftliche Abhandlung über die universellen Bier-Bar-Konstanten in Raum und Zeit.
Hans hat nicht vor, diesen Ort während seiner zwei Tage und Nächte in Pattaya für längere Zeit zu verlassen. Er wird eintauchen und mitschwingen, egal was kommt. Die Ereignisse werden das Drehbuch schreiben und Hans wird sich voll darauf einlassen. Manchmal wird er die Regie übernehmen, manchmal der Hauptdarsteller, selten der Nebendarsteller sein. Und er wird immer darauf achten, sich nicht allzu weit von dem Klischee des Hansels oder Sex-Touristen zu entfernen, zumindest dem äußeren Schein nach. Das Publikum sollen ja schließlich auf seine Kosten kommen. Seine weißen Haare sind da schon mal die halbe Miete. Alter Abschaum-Knacker auf Brautschau, oder so ähnlich. Dirty old man. Wasser auf die Mühlen der Seichten und Einfältigen.
Hans lässt sich auf einem Platz nieder, der ihm den strategischen Blick nach innen und nach aussen erlaubt. Ein schon frisches Mädel in Jeans und T-Shirt fragt ihn, was er trinken möchte.
“Sing khap”
Kommt sofort im Kondom und wird mit einem Lächeln serviert. Weiter nichts. Nach dem ersten Schluck hinterlässt das Isolierband auf dem Styropor seine klebrigen Spuren auf seinen Fingern. Es ist warm und ein Propeller in angenehmer Blasweite wird extra für Hans eingeschaltet.
Die noch liegenden Mädels raffen sich umständlich und widerwillig auf. Schon der zweite Gast. Vielleicht wird es ein guter Tag und es ist besser wenigstens so zu tun, als wenn man bereit ist.
Hans ist die ruhige Lage für einen Augenblick ganz recht. Zeit, sich zu sammeln. Die Bedienung ist die munterste und tut so, als hätte sie was zu tun.
Die anderen Mädels checken ihn aus den Augenwinkeln möglichst unauffällig und beginnen sich zu schminken. Ein Ritual, welches er immer wieder gerne beobachtet. Sie lassen sich unendlich viel Zeit dazu und es ist Meditation pur. Zwei andere stäbeln noch an ihrer Nudelsuppe. Es sind fünf an der Zahl. Zwei, wie zum verwechseln, um die 40, schmal und kleiner Arsch. Hautfarbe asch-grau-braun, wie es typisch für Agrarangestellte ist, die ihren Job vor langer Zeit aufgegeben haben und die Sonne scheuen. Ein etwas pummeliger junger weißhäutiger Hüpfer mit kurzen Haaren, die wie eine Peruecke wirken, weil der Haaransatz etwas zu tief auf der Stirn sitzt. Und noch zwei unscheinbare Mäuschen vor ihren Tellern.
Als sich die Glastüre zum hinteren klimatisierten Teil der Bar öffnet, tritt ein unnahbares Zwergerl mit einem wunderschönen großen Busen unter dem Schlaf-T-Shirt heraus. Sie grüßt niemanden, redet mit niemandem, wird auch von ihren Kolleginnen nicht beachtet, setzt sich still in eine Ecke und packt ihren Schminkkoffer auf den Tisch. Jede ihrer Bewegungen mit Bedacht und Anmut, völlig in sich selber versunken.
Die Kleine neben dem anderen einzigen Gast grinst Hans an. Dieser ignoriert sie völlig, genauso wie ihren Begleiter bisher auch, sagt aber lediglich um seine eigene Stimme zu hören in dessen Richtung:
“Na, gerade eine kleine Kur-Pause eingelegt und auf dem Wege der Besserung?”
Der ist froh und erzählt, dass er schon 3 Wochen hier wäre und die Gewohnheit des harten Lebens ihren Blutzoll fordert. Keine Lust zu nichts mehr. Die erste Woche hätte er sich ungehemmt durchgehurt, die zweite Woche übers Land gereist und dann wieder hier mit der Kleinen neben ihm.
Hans’ Bedienung gesellt sich neben seinen Tisch. Eine oft erlebte Konstante. Sobald die Mädels mitkriegen, dass ein fremder Farang auch sprechen kann, verlieren sie die Anfangsscheu und übernehmen das Ruder für das Mating-Ritual.
Nachdem das Schweigen des anderen Gastes gebrochen ist, spinnt dessen Kleine das Gespräch mit ihm weiter, froh, dass ihr Sponsor seine Sprachlosigkeit überwunden hat.
Hans’ Bedienung konzentriert sich nun auf ihren Gast. Sie hat volle Lippen, ist kein Schmal-Hänsel, sondern normale Figur und Groesse, so um die 172.3.
“where you come from?
(wo kommst du her?)
eröffnet sie die Runde mit echtem englischen Akzent.
“From Switzerland”
“which hotel you stay?
(in welchem Hotel wohnst du?)
“No hotel, town house, Soi Wongamat.”
(kein Hotel, Reihenhaus in der Soi Wongamat)
“Soi Wongamat, Soi Wongamat.” wiederholt sie nachdenkend mehrere male. “I know, Hotel Romeo, right?”
“mia?”
(Ehefrau?)
“No, but the house full of female strangers.”
(nein aber das Haus voller fremder Weiber)
Sie lacht, und zum ersten Mal sieht Hans ihre vollen Lippen und junge Haut bewusst. Der Babyspeck befindet sich in Auflösung, ziert sie aber noch ein wenig. Hat sie seine Worte etwa verstanden?
“You remind me on my friend from England” fährt sie fort. “You’re sure you are from Switzerland?”
(Du erinnerst mich an meinen Freund aus England, Bist du dir sicher, dass du aus der Schweiz kommst?)
Mit der lässt sich arbeiten, denkt Hans, aber die Konstanten verflüchtigen sich gerade. Die ist jung und spricht ein sehr verständliches Englisch. Sie spricht diese Sprache ohne vorher gehirnakrobatisch von Thai in Englisch zu übersetzen. Einfach frei heraus und fliessend. Sie arbeitet in einer Bar, die ihr goldenes Zeitalter schon hinter sich gelassen hat, genau wie Hans selber. Mal sehn’, was sie sonst noch zu bieten hat.
“How old are you?” testet Hans an.
(wie alt bist du?)
“20”
Auweia! Für einen Augenblick möchte Hans es bei Konversation belassen, aber andererseits….
“Show me your ID, khap”
(zeig mir deinen Personalausweis)
Die hat sie schon vor seiner Aufforderung in der Hand und neben all dem Thai-Geraffel steht dort 2528. Stimmt tatsächlich. Wir schreiben gerade das Jahr 2548.
“My birthday is on August 6. You come here?”
(Ich habe am 6. August Geburtstag. Kommste dann?)
und ohne die Antwort abzuwarten, fährt sie fort:
“I am born in Pattaya, work only two weeks in the Bar and had English friend before for one and half year, but he die.”
(Ich bin in Pattaya geboren, arbeite erst seit zwei Wochen in der Bar und hatte vorher einen Englischen Freund ein-ein-halb Jahre lang, aber er ist gestorben.
“I am sorry honey” antwortet Hans nicht ganz ohne Freude für diese weitere Konstante, was die Dauer ihrer Barkarriere betrifft.
Don’t be sorry, it’s half a year ago already. It’s my karma I think.”
(kein Grund für sorry, ist ja schon ein halbes Jahr her. Das ist wohl mein Karma)
Das führt entschieden zu weit. Hans ist hier als Hansel und Sex-Tourist unterwegs. So was übersteigt eigentlich seinen Horizont, wie die anderen immer sagen. Als Hansel verliebt er sich sogleich in die mystische Exotik des Karmas und das schwere Schicksal des Mädels und als Sex-Tourist möchte er endlich ihre vollen Lippen beim Saugen irgendeiner Flüssigkeit beobachten. Also fragt er:
“Khun duem alai khap?
(was möchtest du trinken?)
“Heineken” mit Thai Akzent gesprochen, ohne gezierte Überlegungspause.
“OK, fetch me another Sing nueng duai.”
(OK, hol mir auch noch ein Singha Bier)
Passt! Eine Fruchtsaftheilige wäre nicht das Richtige für Hans in seinem selbstgewählten Film.
Inzwischen sind die Mädels alle wach. Eine nach der anderen verschwindet hinter der Glastüre. Wie Hans später erfährt, wohnen sie alle hier. Die Susi Bar ist ihr Schlaf- Wasch- und Office-Salon. Keine hat die Knete für ihr eigenes Zimmer.
Als sie mit den verschiedenen Biersorten anstoßen und Hans ihre runden unschuldigen Lippen an der Flasche sieht, ist es um ihn geschehen.
“I need a shower. Where can I have one?”
(Ich brauche eine Dusche. Wo kann ich?)
“why you not go your house?”
(warum gehst du nicht in dein Haus?)
“no water and too many strange women” antwortet Hans
(kein Wasser und zu viele fremde Weiber)
“Understand (kicher). I go with you to Lovely Home, OK?”
(Verstehe. Ich gehe mit dir zum Lovely Homes, OK?)
“if it’s not too far, never mind.”
(falls es nicht zu weit ist, OK)
“no, it’s just across the street down the Soi over there. Nice rooms.”
(nein, ist gleich gegenüber die Strasse runter. Nette Zimmer)
Hans bezahlt und weiß, dass nun die Phase Eins beginnt. Solln’ die Weiber in seinem Haus doch in ihrer Ungewissheit schmoren. Heute sehen die ihn nicht wieder. Ein frisches T-Shirt und Unterhose werden sich schon an der Naklua-Road finden.
Unwillkürlich muss er an Werner denken. Die Trauerarbeit ist noch nicht ganz erledigt. Er wird mal wieder was ganz Junges auch stellvertretend für Werner beglücken und einen Drachen mit ihrer Hilfe steigen lassen, nachdem sie ein oder zweimal „oy oy“ gejuchzt hat...