Sonntag 24. Dezember – Heiligabend
Nach dem Kirchgang in Chumpon am Vormittag bin ich mit dem Songtheo zurück an den Strand.
Sonntagnachmittag. Ein etwas heftigerer Wind erzeugt große Wellen, die mit lautem Getöse auf den Strand klatschen. Dieser Wellengang lädt zum Bade ein. Schwimmen kann ich ja nicht mehr; mit nur einem Arm ist das kaum möglich. In Ufernähe werfe ich mich immer wieder in die entgegenkommenden Wellen; manchmal ist der Wellendruck so stark, daß ich im Wasser herumgeschleudert werde und mich am sandigen Ufer wiederfinde wie Strandgut eines havarierten Schiffes. Nachdem ich wieder bei Sinnen bin, rappel ich mich auf und werfe mich erneut in die Wellen. Badespaß vom Feinsten bei einer Wassertemperatur von mindestens 25 Grad.
Nach dem Vergnügen frottiere ich mich ab, lege mich am Strand in den Schatten eines Nadelbaumes auf mein Badetuch und genieße die mich umgebende Natur: Die ständig anbrandende Dünung, den Sandstrand, die Palmen, der allmählich stärker werdende Wind, den Sonnenschein, die Wärme. Ich nehme eines meiner Bücher zur Hand und beginne mit der Lektüre.
Nach ein paar Minuten hält am Straßenrand nur wenige Meter von mir entfernt ein Pickup mit etwa zwölf Personen. Die kommen zum Picknicken und Baden. Zwei Decken werden im Schatten einer kleinen Palme ausgebreitet, die mitgebrachten Speisen werden darauf abgestellt, und eine muntere Futterei beginnt. Es ist Feierabendzeit; nach des Tages Mühe und Plage meldet sich der Hunger, und man isst mit großem Appetit. Nach einiger Zeit lösen sich drei junge Frauen aus der Gruppe und laufen in ihren Badeanzügen auf das Wasser zu, um sich dem Badevergnügen hinzugeben. Sie sind gertenschlank, elegant, wunderbar anzuschauen.
Die Wellen erfassen, umspülen, benetzen die drei Badenixen, dann gespanntes Warten auf die nächste noch größere Welle. Ihre Körper werden vom Wasser getragen, sie schlingern und sie werden hin- und hergeschleudert, und kaum ist diese Welle vorübergerauscht kommt bereits die nächste. Sie reiben sich das Salzwasser aus den Augen, legen das schulterlange tropfnasse Haar mit den Händen zurück über den Kopf und laufen sofort wieder lachend und juchzend in die nächste heranbrausende Welle. Die drei genießen die Freude am Meer, lassen sich gleich wieder von der nächsten Woge überwältigen. Das Wasser spritzt und schäumt; als sie auftauchen legt sich für den Bruchteil einer Sekunde eine schäumende Gischt um ihre schwarzen Haare und ihre Oberkörper, und mir kommt die Göttin Aphrodite in den Sinn, die Schaumgeborene.
Da ist sie, die gerade neugeborene Aphrodite, wie sie auf einer Muschelschale über das Wasser ans Ufer surft.
Dieses Bild Botticellis zählt zu den berühmtesten und bekanntesten erotischen Darstellungen der Kunstgeschichte.
Sie erscheint für uns in ihrem Geburtstagskleid, nämlich splitterfasernackt. Die schamhaften Teile ihres Körpers bedeckt sie notdürftig mit der rechten Hand und ihren Haaren.
Aber das Bild unterschlägt die unmittelbar vorausgegangene hinterhältige, ja brutale Meuchelei, eine Bluttat, die fassungslos macht. Die Erdgöttin Gaia überredete ihren Sohn Kronos, ihrem schlafenden Mann, dem Himmelsgott Uranos, die Geschlechtsteile abzuschneiden. Wie scharmant! Kronos warf nach erfolgreichem Massaker die Geschlechtsteile ins Meer; Blut und Samen vermischten sich mit dem Schaum des Meeres, und aus diesem Gebräu entstand Aphrodite, die Schaumgeborene.
Aphrodite, die Göttin der Liebe, der Fruchtbarkeit, der Erotik gilt als die Schönste unter den Schönen.
Was aber bitte ist schön, oder worin besteht Schönheit?
Gibt es objektive, benennbare Kriterien, nach welchen sich Schönheit bemessen und angeben läßt?
„Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst.“ so heißt es in einem bekannten Gedicht von Mörike.
Schon die alten Griechen wußten, daß sich das Schöne nicht präzise bestimmen läßt, und um sich aus dieser mißlichen Lage zu befreien, richtete man Schönheitswettbewerbe ein, quasi nach dem Vorbild des Sports. Wer der schnellste Läufer und der beste Speerwerfer ist, zeigt sich im sportlichen Wettkampf.
Der berühmteste Schönheitswettbewerb der griechischen Antike verursachte unendlich viel Leid, wie wir wissen.
Deshalb lastet auf Aphrodite noch ein weiterer Schatten. Nicht nur ihr Ursprung, ihr Werden und ihre Geburt verdankt sich einem schweren Verbrechen, nämlich einem Vatermord.
Später begeht sie – wahrscheinlich aus Eitelkeit – einen folgenreichen Fehler, der Auslöser des trojanischen Krieges wird, in dem viele treffliche griechische und trojanische Helden fallen werden, und Homer veranlaßt, seine Illias mit diesen wuchtigen Eingangsversen zu beginnen:
Μῆνιν ἄειδε θεὰ Πηληιάδεω Ἀχιλῆος
οὐλομένην, ἥ μυρί’ Ἀχαιοῖς ἄλγε’ ἔθηκεν,
Den Zorn singe, oh Göttin, des Peleussohnes Achilles,
den unheilbringenden Zorn, der tausend Leid den Achäern
schuf und viele stattliche Seelen zum Hades hinabstieß.
(hier zitert nach Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit)
Übertragen in ein Deutsch, das uns heutigen Lesern versändlich ist:
Oh Göttin, besinge den Zorn des Achilles, der Sohn des Peleus.
Ein tausendfaches Leid ist über die Achäer (= Griechen) gekommen und brachte unzähligen stattlichen Helden den Tod.
Ausgangspunkt für diese Katastrophe ist ausgerechnet eine Hochzeit. Alle olympischen Götter sind zur Hochzeit von Peleus und Thetis eingeladen (den Eltern des berühmten Achill), nur Eris nicht, die Göttin der Zwietracht und des Streites. Aus Wut wirft sie einen goldenen Apfel unter die im Saal versammelte Festgesellschaft mit der Aufschrift „Der Schönsten“. Es kommt zum Streit zwischen den Göttinnen Hera, Athene und Aphrodite. Jede meint, ihr stehe der Apfel zu, sie sei die Schönste. Übrigens, das ist der Ursprung und die ursprüngliche Bedeutung unseres Begriffes „Zankapfel“; der Streit der Göttinnen, wer die Schönste im Land sei.
Um den Zickenkrieg zu schlichten, bestimmt Göttervater Zeus ausgerechnet einen Sterblichen, der durch sein Urteil den Streit entscheiden soll. Dieser arme Kerl, der die Rolle des Schiedsrichter übernehmen soll, ist Paris
*, der verstoßene Sohn des Priamos, König von Troja. Verstoßen, weil bei seiner Geburt geweissagt wurde, Troja werde durch ihn ins Verderben gestürzt. Er wird am Berg Ida ausgesetzt und lebt dort als einfacher Hirte.
Hermes, der Götterbote, führt die drei Streithühner - Entschuldigung, Göttinnen – zu Paris, der nun sein Urteil fällen soll. Jede der Göttinnen umschmeichelt ihn, macht ihm verführerische Versprechungen. Hera verspricht ihm den Aufstieg zum Weltbeherrscher, Athene bietet ihm Weisheit, Klugheit, Urteilskraft und Aphrodite verspricht ihm die schönste Frau der Welt, nämlich Helena, die allerdings mit Menelaos, dem König von Sparta, verheiratet ist. Also ein Angebot mit Tücken und Fallstricken. Paris entscheidet sich für Aphrodite und damit für die Liebe und Helena.
Zornig ob dieser Entscheidung schwören die beiden unterlegenen Göttinnen Rache zu nehmen am Volk und Reich der Trojaner, an König Priamos und den Seinen.
Paris raubt die ihm von Aphrodite zugesprochene schöne Helena und geht mit ihr nach Troja, wo er von seinem Vater König Priamos gnädig aufgenommen wird.
Wir wissen alle, dieser Raub des schönsten Weibes der damaligen Welt war der Auslöser des trojanischen Krieges.
Das alles schießt mir durch den Kopf, während ich die drei jungen Frauen bei ihrem Badevergnügen beobachte. Jetzt laufen sie über den Strand zurück zu ihren Familien, um sich abzufrottieren. Plötzlich durchfährt mich ein mulmiges Gefühl. Nicht daß gleich ein Vater, ein Boyfriend oder wer auch immer mit den drei Meerjungfrauen bei mir erscheint, und ich aufgefordert werde, die Schönste zu bestimmen, quasi ein Parisurteil abzugeben.
Nee, bitte nicht. Wer weiß, was für Folgen mein Urteil auslöst. Ein lautstarker Zickenstreit unter meinen Badenymphen, der in ein paar Handgreiflichkeiten mündet?
Vielleicht kommt ein Vater, Ehemann, Boyfriend einer der unterlegenen Mädels zu mir und droht mit wütend Schläge an. Nein, meide eine solche Situation.
Ich rappel mich auf, packe meine Sachen und gehe die ca. 120 Meter zu meinem Bungalow, um mich für den Abend vorzubereiten.
Vielleicht bringt der Angenehmeres.
Entschuldigung für das bildungsbürgerliche Wissen, welches ich hier zur Anwendung bringe.
Fortsetzung folgt