Die Begegnung - Ein unerwartetes Wiedersehen
Mein Vortrag war ein voller Erfolg. So glaubte ich zumindest, denn niemand verließ den Saal vorzeitig. An die unnahbaren Gesichter der Zuhörer hatte ich mich schon seit Jahren gewöhnt. Unmöglich, aus deren Mimik irgend etwas herauszulesen. Weder Zustimmung noch Ablehnung.
Jeder umgab sich mit einer undurchdringlichen Mauer. Nur in einem war ich mir ziemlich sicher. Heute hatte ich mir keine Feinde gemacht. „Mein“ General hatte die Rede vorher abgesegnet. Seinem Urteil vertraute ich. Er ließ es sich nicht nehmen, bei meinen Vorträgen anwesend zu sei. So auch dieses Mal.
Mit einem Lächeln kam er auf mich zu. In seiner Begleitung eine junge Dame. Wahnsinn! Damit hatte ich nicht unbedingt gerechnet.
“Darf ich dir jemanden vorstellen?” hörte ich ihn wie durch eine dichte Nebelwand sagen.
Wir duzten uns schon seit Jahren, wenn man bedenkt, dass wir das „Khun“ vor dem Namen wegließen, das man mit „Herr“ oder „Mister“ übersetzen könnte. Einmal hatte er mir sogar seinen Spitznamen verraten: Uan. Ich empfand das als besondere Ehre, denn unter normalen Umständen hätte ich ihn doch immer als „Khun Noppadon“ ansprechen sollen/müssen.
Meine Reaktion auf seine Begleitung ähnelte derjenigen bei meiner Ankunft und der Begrüßung im Oriental Hotel einen Tag zuvor. Glücklicherweise stand ich still auf beiden Beinen, sodass ich wohl kaum stolpern konnte. Erst jetzt fiel mir auf, daß ich öfter an sie gedacht hatte. Anscheinend hatte sie einen bleibenden Eindruck auf mich hinterlassen – um es milde zu formulieren. Aber diesen Gedanken schüttelte ich ab.
Noppadon war ein durchaus attraktiver Mann, insbesondere dann, wenn er seine Uniform trug. Und charmant und kumpelhaft konnte er auch sein. Kein Wunder also, daß er mit einer so jungen und bildhübschen Frau verheiratet war. Es gab eben Männer, die konnte man einfach nur beneiden.
Als ich meine Hand zum Gruß ausstreckte, den sie wie selbstverständlich ganz ohne wai erwiderte und ich zu ihr sagte: “Guten Tag, nett sie kennenzulernen. Mein Name ist Hermann”, wußte ich, daß dies zum Teil gelogen war, denn ich begegnete ihr nicht zum ersten Mal. Der gleiche Blick, der gleiche Schelm und dazu diese unbeschreibliche Souveränität, die ihrer Weiblichkeit nicht den geringsten Abbruch tat.
“Guten Tag, Mr. Hermann. Mein Vater hat mir schon viel über sie erzählt. Mein Name ist Sirirat.”
„Mein Vater?“ dachte ich zunächst verwirrt? Dann handelte es sich bei ihr gar nicht um Noppadons Frau? Ein unerklärliches Gefühl der Erleichterung übermannte mich.
Mein Name hatte sich vermutlich einen Tag vorher unauslöschlich in ihr Gedächtnis geprägt. Das gehört zu den Geheimnissen der Angestellten im Oriental Hotel. Ja, sie war es. Eine der Empfangsdamen in der Lobby. Genau jene, die mich aus der Fassung gebracht hatte und wegen der ich fast gestolpert wäre.
Da stand sie nun mit einer unbeschreiblichen Ausstrahlung, als ob unsichtbar umringt von ihren Ahnen. Sie alle hatten einen Teil zu ihren Genen beigetragen und ein Kunstwerk geschaffen. Sie schienen zu flüstern: „Sieh her. In ihr lebt Mo, unsere geliebte Schwester über alle Zeiten hinweg. Durch sie sind wir unvergänglich. Sie verdient allen Respekt, den du ihr geben kannst. Also benimm dich, auch wenn du nur ein Farang bist.“
Noppadon sah leicht amüsiert dieser Szene zu. Ob er ahnte, was ich dachte? Seine Blicke wanderten zwischen seiner Tochter und mir hin und her, als ob er darauf wartete, daß ich etwas sagte. Aber ich wußte nicht, welche Worte nun angebracht sein könnten, daher schwieg ich lieber.
Schließlich trat Noppadon auf mich zu und fasste mich freundschaftlich am Oberarm. Er fragte: „Du hast dir doch auf dieser Geschäftsreise etwas mehr Zeit genommen als sonst, nicht wahr?“
Ich nickte, immer noch unfähig, etwas zu sagen.
„Dann mache ich dir einen Vorschlag. Was hältst du davon, wenn dir meine Tochter die Stadt etwas näher bringt?“
Er hatte seine Anregung zwar in einer Frage verpackt, aber der General ließ keinen Zweifel daran, daß es zwecklos gewesen wäre, zu widersprechen.
„Sirirat wird dich begleiten und dir die beste Fremdenführerin sein, die du dir vorstellen kannst.“
Dabei sah er nicht mich, sondern seine Tochter mit einem eindringlichen Blick an.
„Meine Schicht im Hotel beginnt momentan immer um…“, begann Sirirat.
„Ich werde mit dem Manager „Khun Kurt“ sprechen, so daß du für Hermann etwas mehr Zeit einplanen kannst“, unterbrach der General.
Sirirat nickte und lächelte.
Nun fand ich meine Sprache wieder: „Ich war noch nie im Jim-Thompson-Haus“, sagte ich. „Da wollte ich schon immer gerne hin.“
„Dafür wird bestimmt auch noch Zeit sein, Hermann“, sagte der General und mit einem Blick auf seine Tochter: „Sirirat wird dir unsere Familiengeschichte etwas näher bringen. Dazu braucht ihr nur vor die Tür des Orientals zu treten und schon seid ihr mitten drin. Die Thanon Charoen Krung spielt die Hauptrolle in diesem Zusammenhang.“
Die Thanon was...? ging es mir durch den Kopf.