MIA - Meiner ist anders! (Teil 5)
Mai - August 2023
Der deutsche Sommer entfaltete sich wie ein Geschenk vor Phaos staunenden Augen. Werner beobachtete ihn dabei, wie er jeden Morgen auf die kleine Terrasse seines Reihenhauses trat und fasziniert in den gepflegten Garten schaute. Die akkurat geschnittenen Rasenflächen, die ordentlich gestutzten Hecken, die pünktlich blühenden Rosen - alles so anders als das chaotische, lebendige Grün seiner Heimat.
"So... ordentlich," sagte Phao oft, während er seinen Morgentee trank. "Alles hat Platz. Alles hat Zeit."
Die ersten Wochen vergingen wie im Traum. Werner hatte sich drei Wochen Urlaub genommen, um Phao das neue Land zu zeigen. Sie fuhren nach Köln zum Dom, den Phao mit großen Augen bestaunte. "So big! Like mountain, but people build!" Sie besuchten die Wuppertaler Schwebebahn, was Phao zu begeisterten Selfies vor der historischen Konstruktion animierte. Schloss Burg ließ ihn staunend durch die alten Gemäuer wandeln, während er Werner mit Fragen löcherte, die dieser nur halb übersetzen konnte.
Aber es waren die kleinen Dinge, die Phao am meisten beeindruckten. Der Bäcker an der Ecke, der jeden Morgen um punkt sechs Uhr öffnete. Die Tatsache, dass Busse pünktlich kamen. Dass man Leitungswasser trinken konnte. Dass niemand auf der Straße hupte.
"Deutschland like big machine," sagte er bewundernd. "Everything work perfect."
Doch nach drei Wochen musste Werner wieder arbeiten, und die ersten Probleme zeigten sich.
Phao blieb allein in dem kleinen Reihenhaus zurück, während Werner bei den Stadtbetrieben seine acht Stunden absolvierte. Am Anfang war er noch beschäftigt - Deutsche Fernsehsender verstehen zu lernen, im Internet über Deutschland zu lesen, mit seiner Familie in Laos zu skypen. Aber bald stellte sich Langeweile ein.
"What I do whole day?" fragte er Werner eines Abends, als dieser erschöpft von der Arbeit kam.
"You can walk in city. Visit museum. Learn German."
"Alone? Always alone?"
Werner spürte die Frustration in Phaos Stimme. In Thailand war Phao ständig von Menschen umgeben gewesen - Kollegen, Kunden, Freunde. Hier kannte er niemanden außer Werner.
"Maybe we find German course for you?" schlug Werner vor.
Sie meldeten Phao für einen Anfängerkurs an der Volkshochschule an. Drei Mal die Woche, zwei Stunden. Phao ging pflichtbewusst hin, kam aber oft frustriert zurück.
"Teacher speak too fast. Other students already know much German. I feel stupid."
Werner versuchte, ihn zu ermutigen, aber er merkte, dass Phao sich zunehmend isoliert fühlte. Die deutsche Ordnung, die ihn anfangs fasziniert hatte, wurde langsam zur Last.
Der erste größere Konflikt kam noch im Mai, als Werner vorschlug, Phao seinen Kollegen vorzustellen.
"There is party at work. Summer party. You come with me?"
Phao nickte eifrig. "Yes! I meet your friends!"
Werner war nervös. Seine Kollege bei den Stadtbetrieben wussten zwar, dass er "Besuch aus Laos" hatte, aber mehr nicht. Es wäre sein offizielles Coming-out, auch wenn er es nicht so genannt hätte.
Die Betriebsfeier fand in einem Biergarten statt. Werner und Phao kamen zusammen, Werner stellte ihn als "meinen Freund Phao aus Laos" vor. Einige Kollegen waren neugierig, fragten nach seinem Land, seiner Arbeit. Phao gab sein Bestes, antwortete höflich auf Englisch, lächelte viel.
Aber Werner merkte die Blicke. Die versteckte Neugier. Das Getuschel, wenn sie dachten, er höre es nicht.
"Der ist ja jung genug, um sein Sohn zu sein," hörte er Petra aus der Buchhaltung zu ihrer Kollegin sagen.
"Typische Midlife-Crisis," murmelte Klaus aus der Personalabteilung. "Erst Thailand-Urlaub, jetzt das."
Werner fühlte sich unwohl, aber Phao schien es nicht zu merken. Er redete animiert mit Werners Chef über die Unterschiede zwischen Deutschland und Laos, zeigte Fotos auf seinem Handy, war charmant und aufmerksam.
"Netter junger Mann," sagte der Chef zu Werner. "Wie lange bleibt er denn?"
"Drei Monate," antwortete Werner. "Besuchervisum."
"Aha. Und dann?"
"Dann... sehen wir weiter."
Auf der Heimfahrt war Werner schweigsam. Phao merkte es.
"Your colleagues not like me?"
"No, they like you. You were very good."
"But you sad. Why?"
Werner seufzte. "Is difficult. In Germany, people ask many questions. They... judge."
"Because I young? Because I from poor country?"
"Yes. And because..." Werner suchte nach den richtigen Worten. "Because we are two men. Some people not understand."
Phao schaute ihn überrascht an. "In Thailand, nobody care. Two men, two women, one man one woman - same same."
"Germany different."
Es war ein Thema, das zwischen ihnen stand, ohne dass sie es offen ansprachen. Werner hatte sein ganzes Leben im Schrank verbracht, hatte eine Frau geheiratet, Kinder bekommen, ein "normales" Leben geführt. Mit 58 plötzlich offen schwul zu sein, einen 24-jährigen Freund aus Asien zu haben - das war für sein konservatives Umfeld ein Schock.
Mit dem warmen Juni kam auch Phaos Vorschlag, der Werner völlig aus der Komfortzone riss.
"Werner, I see on internet - there is Pride in Berlin. Many people, music, celebrate. We go?"
Werner zögerte. Christopher Street Day in Berlin. Das bedeutete Hunderttausende von Menschen, Regenbogenfahnen, offen schwule Paare. Genau das, was er sein Leben lang vermieden hatte.
"Is very... open," sagte er vorsichtig. "Many people."
"Yes! That why good! We can be normal there. Nobody judge."
Phao hatte schon Fotos im Internet angeschaut, las über die Geschichte der Pride-Bewegung, fand alles faszinierend. Für ihn war es eine Chance, endlich zu einer Gemeinschaft zu gehören, akzeptiert zu werden.
"Please, Werner. For me?"
Werner konnte Phaos Bitte nicht widerstehen. Er buchte ICE-Tickets nach Berlin, reservierte ein Hotel. Zum ersten Mal in seinem Leben würde er an einer Pride-Parade teilnehmen.
Der CSD in Berlin war überwältigend. Die Straßen voller Menschen in Regenbogenkleidung, Musik aus allen Richtungen, eine Atmosphäre der Ausgelassenheit und Akzeptanz. Phao blühte auf. Er tanzte zu der Musik, fotografierte alles, strahlte vor Freude.
"So beautiful!" rief er immer wieder. "So many people like us!"
Werner fühlte sich anfangs unwohl in der Menge, aber Phaos Begeisterung war ansteckend. Zum ersten Mal sah er sich selbst als Teil einer Gemeinschaft, nicht als Außenseiter.
Doch dann geschah etwas, was Werner einen Stich versetzte. Ein junger Mann, etwa in Phaos Alter, sprach sie an. Blond, muskulös, mit einem offenen Lächeln.
"Hey, cool that you're here!" sagte er auf Englisch zu Phao. "First time at Berlin Pride?"
"Yes! Is amazing!" Phao strahlte zurück.
"I'm Marc. You want to join our group? We're going to the after-party later."
Werner sah, wie Phao zu dem jungen Mann hinüberblickte, sah das Leuchten in seinen Augen. Es war derselbe Blick, den er einst ihm selbst geschenkt hatte - interessiert, aufmerksam, angezogen.
"This is Werner, my..." Phao zögerte. "My friend."
Friend. Nicht boyfriend. Nicht partner. Friend.
Marc nickte höflich zu Werner, aber sein Fokus blieb auf Phao. "You from Thailand?"
"Laos. But I live in Germany now. With Werner."
"Cool. Laos, that's exotic. You should totally come to the party. There'll be lots of international guys there."
Werner spürte eine Eifersucht, die ihn überraschte in ihrer Intensität. Er sah, wie Marc Phao seine Nummer gab, wie sie sich für später verabredeten.
"We should go," sagte Werner schließlich.
"But party just starting!" protestierte Phao.
"I'm tired. Too many people."
Auf dem Rückweg zum Hotel war die Stimmung angespannt. Phao war enttäuscht, Werner war eifersüchtig, aber keiner sprach es aus.
Im Hotelzimmer brach es schließlich aus Werner heraus.
"You like him."
"Who?"
"Marc. The German boy."
Phao seufzte. "Werner, he just friendly. Like you friendly when we meet first time."
"He wanted to take you to party. Without me."
"You not want go anyway. You say too many people."
Werner setzte sich aufs Bett, plötzlich sehr müde. "I know I'm old for you, Phao. I know there are younger men, handsome men..."
Phao kam zu ihm, nahm sein Gesicht in beide Hände. "Werner, listen me. I choose you. I come Germany for you. Not for party, not for other men. For you."
"But you called me friend. Not boyfriend."
Phao seufzte. "In public... is difficult. You also not say I your boyfriend to your work people."
Das stimmte. Werner hatte ihn auch nur als "Freund" vorgestellt.
"We both scared," sagte Phao sanft. "But when we alone, we know what we are."
Sie versöhnten sich, liebten sich in dieser Nacht mit einer Intensität, die von ihrer Unsicherheit und ihren Ängsten genährt wurde.
Doch die Schatten des Berliner CSD warfen ihre Vorhersagen voraus, als zwei Wochen später der CSD in Köln anstand. Phao drängte wieder darauf hinzugehen, und Werner, der nicht als spielverderber dastehen wollte, stimmte zu.
Köln war kleiner als Berlin, überschaubarer, aber das machte es nicht besser für Werner. Hier kannten ihn Menschen. Kollegen, Nachbarn, alte Bekannte. Das Risiko, gesehen zu werden, war größer.
Und tatsächlich, mitten in der Parade, sah Werner einen Kollegen aus der Verwaltung. Ihre Blicke trafen sich. Der Mann schaute überrascht, dann verständnisvoll, nickte kurz und ging weiter.
"Shit," murmelte Werner.
"What?" fragte Phao.
"Nothing. Someone from work."
Aber Phao hatte schon wieder einen neuen Gesprächspartner gefunden - einen jungen Italiener, der fließend Englisch sprach und Phao zum Lachen brachte. Werner beobachtete sie, sah die Leichtigkeit, mit der Phao mit Gleichaltrigen umging, die gemeinsame Sprache, die er mit ihnen hatte.
Zum ersten Mal seit Phaos Ankunft fragte sich Werner, ob er Phao etwas vorenthielt. Ein Leben unter jungen Menschen, Partys, Ausgelassenheit. All das, was Werner mit seinen 58 Jahren nicht bieten konnte.
Als sie am Abend nach Hause fuhren, war die Spannung zwischen ihnen greifbar.
"You not happy at Pride," stellte Phao fest.
"Is not about Pride. Is about... us. About difference between us."
"What difference?"
"I'm 58, Phao. You're 24. I want quiet life, early sleep, save money. You want party, fun, be young."
Phao setzte sich neben ihn aufs Sofa. "Werner, when I in Thailand, I party every night. Many men, much alcohol, no sleep. Was empty. Fun, but empty. With you... is different. Is... how you say... meaningful."
"But you miss it. I see how you are with young men. How you smile."
"Of course I smile. Is friendly. But I not want go back to that life."
Werner wollte ihm glauben, aber die Zweifel nagten an ihm. Beim CSD hatte er gesehen, wie Phao aufblühte in der Gesellschaft Gleichaltriger. War er egoistisch, Phao in seiner kleinen, ruhigen Welt gefangen zu halten?
Diese Fragen beschäftigten Werner auch, als sie im Juli nach Bayern fuhren. Er wollte Phao die deutsche Natur zeigen, die Berge, die Seen, hoffte vielleicht auch, die Probleme in der vertrauten Zweisamkeit lösen zu können. Sie mieteten ein Auto und fuhren nach Berchtesgaden, wanderten am Königssee, übernachteten in kleinen Pensionen.
Es waren schöne Tage. Phao fotografierte alles, staunte über die Landschaft, war dankbar für Werners Führung. Aber Werner merkte auch, dass die langen Autofahrten, die ruhigen Abende, die frühen Bettzeiten Phao langweilten.
"In Thailand," sagte Phao einmal, als sie in einer Berghütte saßen und Kaffee tranken, "we never go bed before midnight. Always something happen, always people to talk."
"Is that better?" fragte Werner.
"Not better. Different. Sometimes I miss... how you say... excitement."
"And here? With me? Is boring?"
Phao griff nach seiner Hand. "Not boring. Peaceful. But sometimes..." Er suchte nach Worten. "Sometimes I feel like old man. Sleep at nine, wake up at six, same every day."
Es war ein ehrliches Geständnis, das Werner schmerzte. Er versuchte, lebendiger zu sein, schlug Aktivitäten vor, blieb länger wach. Aber es fühlte sich gekünstelt an, als würde er eine Rolle spielen.
Der Höhepunkt ihrer Reise war ein Abend in einem Münchener Biergarten. Werner hatte sich Mühe gegeben, später wegzugehen, hatte sogar ein drittes Bier getrunken. Die Stimmung war gut, sie lachten, Phao erzählte Geschichten aus seiner Kindheit.
Dann setzte sich eine Gruppe junger Backpacker an den Nebentisch. Amerikaner, etwa in Phaos Alter, laut und fröhlich. Einer von ihnen hörte Phao Englisch sprechen und kam rüber.
"Hey man, where you from? Your accent is interesting!"
Bald war Phao in ein lebhaftes Gespräch mit der ganzen Gruppe verwickelt. Sie redeten über Reisen, Länder, Erfahrungen. Phao blühte auf, wurde lebendiger, als Werner ihn seit Wochen gesehen hatte.
"We're going to this club later, want to join?" fragte einer der Amerikaner.
Phao schaute zu Werner, hoffnungsvoll.
"Is late," sagte Werner. "Tomorrow we drive back."
"Come on, old man!" lachte einer der Backpacker. "Let the kid have some fun!"
Old man. Das Wort traf Werner wie ein Schlag. Er sah Phaos enttäuschtes Gesicht, die Sehnsucht nach der Spontaneität, die er nicht bieten konnte.
"Go," sagte er schließlich. "I go back to hotel. You have fun."
"You sure?"
"Yes. But not too late."
Es war nach drei Uhr morgens, als Phao zurückkam. Werner hatte nicht geschlafen, hatte gewartet, sich Sorgen gemacht. Phao war angetrunken, aber glücklich.
"Was good," sagte er, als er sich ins Bett legte. "They very funny. We talk about everything."
"Did you...?" Werner konnte die Frage nicht aussprechen.
"What?"
"Nothing. Sleep now."
Aber Werner konnte nicht schlafen. Zum ersten Mal seit Phaos Ankunft hatte er ihn für einen ganzen Abend an andere Menschen "verloren". Und er hatte gesehen, wie glücklich Phao dabei gewesen war.
Als sie nach Wuppertal zurückkehrten, brachte der heiße August neue Herausforderungen mit sich. In Werners kleinem Reihenhaus wurde es stickig, die Hitze staute sich. Phao, gewöhnt an tropisches Klima, liebte es. Er lag stundenlang im Garten, las, hörte Musik, chattete mit seiner Familie.
Werner dagegen litt unter der Hitze. Bei der Arbeit war er müde, zuhause reizbar. Die Sommerpause in Deutschland war anders als in Thailand - hier erwartete man Erholung, Ruhe. Phao erwartete Leben, Aktivität.
"We go swimming?" fragte Phao oft.
"Public pool too crowded. Too many people."
"Then what we do?"
"Wait until evening. Then is cooler."
Aber abends war Werner meist zu müde für große Unternehmungen. Er wollte nur duschen, Nachrichten schauen, früh ins Bett.
Phao begann, allein wegzugehen. Ins Kino, in die Stadt, in den Park. Werner war froh, dass er Selbstständigkeit entwickelte, aber er merkte auch, dass sie sich auseinanderlebten.
Die Gespräche wurden oberflächlicher. Phao erzählte weniger von seinen Tagen, Werner fragte weniger nach. Sie lebten nebeneinander her, liebevoll, aber distanziert.
Gegen Ende August, als die ersten Blätter sich zu verfärben begannen und Phaos Rückreise näher rückte, bekam Werner einen überraschenden Anruf. Es war Markus, sein 29-jähriger Sohn.
"Papa! Überraschung! Sabine und ich sind in Wuppertal. Wir besuchen Mama seit zwei Wochen, aber wir dachten, wir schauen auch mal bei dir vorbei. Hast du morgen Nachmittag Zeit? So gegen drei?"
Werner erstarrte. Seine Kinder wussten nichts von Phao. Rein gar nichts. "Äh... morgen? Sonntag?"
"Ja, wir dachten, wir trinken Kaffee bei dir im Garten. Wie früher. Sabine hat sogar Kuchen gebacken!"
"Das ist... das ist schön," stammelte Werner. "Natürlich, kommt gerne."
Nach dem Gespräch saß Werner wie gelähmt da. Phao kam gerade vom Einkaufen zurück und bemerkte sofort sein verstörtes Gesicht.
"What wrong?" fragte Phao besorgt.
"My children. They come tomorrow. For coffee. They... they don't know about you."
Phao setzte die Einkaufstüten ab. "They not know I here?"
"No. I never told them. I thought... I thought we talk about future first, before I tell family."
"So what we do tomorrow?"
Werner rieb sich die Schläfen. "I don't know. Maybe you go out? In city? Until they gone?"
Phao schaute ihn lange an. "You ashamed of me?"
"No! Not ashamed. Just... complicated. They will ask many questions."
"Then maybe time for truth," sagte Phao leise.
Am Sonntagmorgen war Werner nervös wie ein Schuljunge. Er räumte dreimal die Terrasse auf, stellte den guten Porzellan raus, überprüfte ständig die Zeit. Phao blieb gelassen, trank seinen Morgentee und beobachtete Werner mit einer Mischung aus Belustigung und Sorge.
"You very nervous," stellte er fest.
"My children... I haven't seen them together for months. And now with you here..."
"I can go away. No problem."
Werner zögerte. Ein Teil von ihm wollte das. Der einfache Weg. Aber ein anderer Teil war müde vom Verstecken, von den Lügen.
"No," sagte er schließlich. "Stay. We... we see what happens."
Um punkt drei Uhr klingelte es an der Tür. Werner öffnete und stand seinen beiden Kindern gegenüber - Markus, groß und schlank wie er selbst, mit der IT-Consultant-Brille und dem freundlichen Lächeln, und Sabine, kleiner, resoluter, mit einem selbstgebackenen Kuchen in der Hand.
"Papa!" Sabine umarmte ihn herzlich. "Du siehst gut aus! Erholt!"
"Danke, dass wir spontan kommen konnten," sagte Markus und drückte Werner die Hand. "Mama hat erzählt, du hättest Besuch aus dem Ausland. Ist er noch da?"
Werner schluckte. "Äh... ja. Er ist... äh..."
"Lass uns raten," lachte Sabine. "Ein alter Schulfreund? Ein Kollege im Sabbatical?"
Sie gingen durch das Haus zur Terrasse, wo bereits Kaffeetassen bereitstanden. Werner hatte gehofft, Phao wäre im Garten oder im Haus, aber er saß bereits am Tisch, höflich lächelnd, eine Tasse Tee vor sich.
Die Stille war ohrenbetäubend.
Markus und Sabine blieben wie angewurzelt stehen. Sie sahen einen jungen asiatischen Mann, etwa Markus' Alter, der höflich aufstand und sich leicht verbeugte.
"Hello," sagte Phao mit seinem sanften Lächeln. "I am Phao. Nice to meet you."
Sabine schaute von Phao zu Werner und zurück. "Papa...?"
"Das ist... äh... das ist Phoumsana. Phao. Er kommt aus Laos."
"Laos?" Markus fand seine Sprache wieder. "Wow, das ist... exotisch."
Sie setzten sich alle an den Tisch, aber die Atmosphäre war angespannt. Werner schenkte Kaffee ein, seine Hände zitterten leicht.
"Wie lange bist du denn schon in Deutschland?" fragte Markus höflich.
"Three months," antwortete Phao. "I visit Werner. He show me Germany."
"Drei Monate?" Sabine schaute ihren Vater scharf an. "Du hattest drei Monate Besuch und hast uns nichts gesagt?"
"Es war... kompliziert," murmelte Werner.
"Wie habt ihr euch denn kennengelernt?" fragte Markus, während er Kuchen verteilte.
Werner und Phao tauschten einen Blick aus. "In Thailand," sagte Werner schließlich. "Ich war im Urlaub."
"Ach, der Thailand-Urlaub mit diesem Dieter?" Sabine erinnerte sich. "Das war ja im Winter. Und jetzt ist er hier?"
"Ja."
Die Fragen kamen schneller. Wo Phao wohnte (hier), was er arbeitete (nichts, Besuchervisum), wie lange er bleiben würde (ursprünglich drei Monate), ob er Deutsch sprach (wenig).
Werner beobachtete seine Kinder dabei, wie sie langsam begriffen. Markus wurde nachdenklicher, stellte vorsichtigere Fragen. Sabine wurde misstrauischer.
"Papa," sagte sie schließlich direkt. "Was ist hier los? Wirklich."
Werner atmete tief durch. Der Moment der Wahrheit war gekommen.
"Phao ist... er ist mehr als nur ein Freund."
"Mehr?" Sabines Stimme wurde schärfer.
"Er ist... wir sind... zusammen."
Die Stille war erdrückend. Markus lehnte sich zurück, Sabine starrte ihren Vater an, als hätte er ihr mitgeteilt, er sei ein Außerirdischer.
"Zusammen," wiederholte sie langsam. "Du meinst..."
"Ja."
"Papa," Markus' Stimme war ruhig, aber bestimmt. "Ist das dein Coming-out? Mit 58?"
Werner nickte stumm.
Sabine sprang auf. "Das ist nicht dein Ernst! Papa, der Junge ist so alt wie wir! Wie Markus!"
"Sabine..." versuchte Werner zu beschwichtigen.
"Nein! Das ist... das ist widerlich! Du kaufst dir einen jungen Mann aus einem armen Land und nennst das Liebe?"
Phao zuckte zusammen, verstand genug, um die Aggression zu spüren.
"So ist es nicht," sagte Werner verzweifelt.
"Wie ist es denn?" Sabine war außer sich. "Erzähl mir, wie es ist! Wie viel Geld hast du ihm gegeben? Für was? Für Sex?"
"Sabine, hör auf!" Markus versuchte zu vermitteln.
"Nein, ich höre nicht auf! Ich habe zwei kleine Kinder, Markus! Und mein Vater..." Sie schaute angeekelt zu Werner. "Mein Vater ist ein Pädophiler geworden!"
Das Wort hing in der Luft wie Gift. Werner wurde blass, Phao verstand es auch ohne Übersetzung.
"Das bin ich nicht," flüsterte Werner.
"Doch, das bist du! Ein alter Mann, der sich junge Männer kauft!" Sabine griff nach ihrer Handtasche. "Ich gehe. Und ich will nie wieder etwas von dir hören, solange... solange das hier so ist."
Sie stürmte ins Haus. Markus blieb sitzen, schaute zwischen seinem Vater und Phao hin und her.
"Papa," sagte er schließlich. "Ist das echt? Liebst du ihn wirklich?"
Werner schaute zu Phao, der trotz allem ruhig geblieben war. "Ja. Ich glaube schon."
"Und du?" fragte Markus Phao direkt. "Do you love him?"
Phao nickte langsam. "Yes. He good man. Kind man."
Markus seufzte. "Das ist... das ist ein Schock, Papa. Ich brauche Zeit, das zu verstehen."
Er stand auf. "Ich muss Sabine nachgehen. Sie ist völlig durch den Wind." Er schaute noch einmal zu Phao. "Es war... interessant, dich kennenzulernen."
Als beide gegangen waren, blieben Werner und Phao allein auf der Terrasse zurück. Der Kaffee war kalt geworden, Sabines Kuchen unberührt.
"I sorry," sagte Phao leise.
"Not your fault," antwortete Werner müde.
"Your daughter very angry."
"Yes. She thinks... she thinks I'm sick. Bad man."
Phao griff nach seiner Hand. "You not bad man. You lonely man who find love. Nothing wrong with that."
Aber Werner war sich da nicht mehr so sicher. Zum ersten Mal sah er sich durch die Augen seiner Tochter - ein 58-jähriger Mann mit einem 24-jährigen Lover aus einem armen Land. Es sah wirklich nicht gut aus.
Sie saßen schweigend da, während die Sonne unterging und der August-Abend kühl wurde.
"What happen now?" fragte Phao, als sie abends auf dem Balkon saßen.
"You go back to Laos. We said three months."
"And then?"
Werner zögerte. Die drei Monate waren schnell vergangen. Es waren schöne Monate gewesen, aber auch schwierige. Der Altersunterschied, die kulturellen Unterschiede, seine eigene Eifersucht - all das war nicht verschwunden.
"I don't know," sagte er ehrlich.
"You still want marry me?"
Die Frage hing zwischen ihnen. Werner dachte an die Pläne, die sie in Thailand gemacht hatten. An die Träume von einer gemeinsamen Zukunft.
"Do you still want to marry me?" fragte er zurück.
Phao war lange still. Dann: "I love you, Werner. But..."
"But?"
"But sometimes I feel like bird in cage. Beautiful cage, safe cage, but still cage."
Es war das ehrlichste, was Phao je zu ihm gesagt hatte. Und es brach Werner das Herz, auch wenn er wusste, dass es wahr war.
"So what do you want?" fragte er leise.
"I want both. I want safety with you. And I want freedom to be young."
"That's not possible, Phao. You can't have both."
"Why not?"
Es war eine naive Frage, aber auch eine, die Werner nicht beantworten konnte. Warum war es nicht möglich? Nur weil es gesellschaftliche Normen gab? Weil er zu eifersüchtig war? Weil er zu alt war für Kompromisse?
"We talk about it," sagte er schließlich. "When you come back from Laos."
"I come back?"
"If you want. If we find way to make it work."
Phao lächelte zum ersten Mal seit Tagen richtig. "I want come back, Werner. I want find way."
Sie umarmten sich, dort im kleinen Garten des Reihenhauses in Wuppertal. Der deutsche Sommer ging zu Ende, aber ihre Geschichte ging weiter. Irgendwie.
"MIA," flüsterte Werner in Phaos Haar. "Meiner ist anders."
Aber zum ersten Mal fragte er sich, ob "anders" genug war.
